Neue Zuercher Zeitung, Feuilleton, 4. August 2001, Switzerland.



Zwischen Aufbauhilfe und Themenpark

Die Gegenwartskunst auf der Suche nach der gesellschaftlichen
Relevanz

Obwohl schon unzählige Male als aufgelöst erklärt, besteht die
Liaison zwischen Alltagsleben und Gegenwartskunst, zwischen
konkreten gesellschaftlichen Zuständen undFormen ihrer
Verbildlichung weiter. Fragt sich nur, ob die ungleichen Partner
aufeinander hören und sich verstehen.

Von Matthias Vogel

Künstlerinnen und Künstler der jüngeren Generation schaffen immer
wieder engagierte Kunst, ohne fixe politische Überzeugungen oder
Theorien zu besitzen. Sie scheinen zu spüren, dass nur die Kunst, die
nicht bewertet und zurechtrückt, dagegen gefeit ist, überkommene
Erklärungsmuster zu übernehmen und Bestehendeszu festigen. Sie
geben nicht mehr ganzen Bevölkerungsgruppen oder gar Kontinenten
ihre Stimme.Es geht diesen Künstlern in der Regel um individuelle
Fälle. Kleine, gesellschaftlich marginalisierte Gemeinschaften werden
für Augenblicke aus dem nebligen Territorium des Verdrängens
gezerrt. Missstände werden beleuchtet, doch Lösungen, vor allem
allgemein gültige, werden keine angeboten. Und noch etwas hat sich
seit der letzten Hochzeit politischer Kunst in den sechziger und
siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts geändert, die unfruchtbare
Zweiteilung in Freundeund Feinde; Opfer- und Täterrollen wurden
aufgegeben. Wichtig sind nun Übergänge und Vermischungen
zwischen den nur vordergründig geschiedenen Grössen.

ENTWICKLUNGSHELFER

Nehmen wir das Projekt «The Quiet in the Land», an dem seit 1995 vor
allem Künstler aus Nordamerika (Janine Antoni, Larry Clark, Rirkrit
Tiravanija) mit der Absicht beteiligt sind, die Beziehung zwischen der
zeitgenössischen Kunst undden jeweiligen Lebensumständen
bestimmter Bevölkerungssegmente in Nordamerika (Shaker),
Lateinamerika oder Asien zu hinterfragen. Ziel ist es, das Potenzial
zeitgenössischer Künstler als Katalysatoren einer wünschenswerten
gesellschaftlichen Entwicklung auszuschöpfen. Dies erinnert unter
anderem an Pamphlete und Vorhaben der Gruppe E. A. T.
(Experiments in Art and Technology) um den Ingenieur Billy Klüver
und den Künstler Robert Rauschenberg, die vor mehr als dreissig
Jahren neuste Technologien und schöpferische Menschen ohne Erfolg
nach Indien exportieren wollte.

Heutige Künstler treten nicht in der Maske weisser Kolonialisten auf.
So lesen wir in der programmatischen Schrift des «Projeto Axé», bei
dem Strassenkinder und Jugendliche in der Region Bahia in Brasilien
Kommunikationspartner sind: Voraussetzung für ein Gelingen sei,
dassman sich der Differenzen zwischen den schöpferischen Individuen,
die von aussen an die bestehenden Verhältnisse herantreten, und den
mehr oder weniger homogenen Gruppen, die in den jeweiligen
Gegenden existieren, bewusst werde. Dagegen ist der Glaube an die
moralisch- praktische Dimension des Ästhetischen ungebrochen. Die
Produktion von Kunstwerken sei eine spirituelle Tätigkeit, durch die
der Mensch sich der Qualität und Bedeutung seines Leben bewusst
werde. Kunst ernähre die Menschen indirekt, da sie den Individuen
Instrumente bereitstelle, mit denen sie sich selbst und die Gesellschaft
transformieren könnten. Doch gehen die Verantwortlichen des
«Projeto» beim konkreten schöpferischen Akt nicht von den
angenommenen kreativen Bedürfnissen der Kinder und
Jugendlichenaus, sondern von dem, was sie ohnehin fasziniert - Musik,
Tanz, Mode. Am Schluss solltendie Teilnehmer in der Lage sein, ihren
Lebensunterhalt mit künstlerischer Tätigkeit selbst zu verdienen: Hilfe
zu Selbsthilfe und Künstler als Entwicklungshelfer.

SHARON LOCKHART

Diese Modelle scheitern in der Regel an den verschlossenen
Vermittlungskanälen (Galerien, Zeitschriften, Museen) und an dem
Rezeptionsverhalten potenzieller Käufer aus den industrialisierten
Ländern. Unter diesen Umständen ist eswichtig, dass es Künstlerinnen
wie Sharon Lockhart gibt, die auf Seiten der Kunstinteressierten das
Bewusstsein für grundsätzliche Probleme bei der Begegnung mit
kulturellen Äusserungen aus Entwicklungsländern schärfen. In ihrem
Film Teatro Amazonas (1999) stellt sie eine Videokamera auf die
Bühne des neu renovierten Opernhauses von Manaus im tiefen
brasilianischen Urwald. Am Ende des 19. Jahrhunderts in der
durchGummiexport reich gewordenen Stadt nach europäischen
Vorbildern und mit importierten Materialien errichtet, galt dieses Haus
schon immer alsSymbol für das Zusammentreffen der europäischen
Kultur mit einem exotischen Ort.

Auf der Videoarbeit ist ein geladenes Publikum zu sehen, das die
verschiedenen Quartiere der Stadt repräsentiert und einem
Auftragswerk des minimalistischen Komponisten Becky Allen lauscht.
Es ist mit der einsamen Kamera auf der Bühne und einer allmählich
verstummenden Musik konfrontiert. Die Zuschauer versuchen sich auf
individuelle Weise mit der Präsenz der Kamera, die stellvertretend für
den Betrachter aus dem kulturell und ökonomisch dominanten Teil der
Erde steht, auseinanderzusetzen. Auch die Menschen hinter der Kamera
sind im Bereich des Wahrnehmens und Erkennens gefordert. Sollen sie
die orientalische Szenerie mit dem bemächtigenden Blick des
Ethnographen alten Schlages erfassen und die Population zu einer
Fallstudie machen? Oder sollen sie sich auf die Individuen einlassen
und Gefahr laufen, dass die scheinbar überschaubare Menge in
Einzelteile zerfällt?

AN DER GRENZE ZUM EVENT

Beim Vergleich mit älterer engagierter Kunst, die explizit politisch war,
kommt einem der Gedanke Christian Boltanskis in den Sinn, wonach
sich das gestalterische Individuum immer dem historischen Augenblick,
in dem es steht, beugen müsse. Selbst wenn sich ein Künstler bewusst
dagegen wehre, Zeuge seiner Zeit zu sein, wenn er nach dem
Allgemeingültigen strebe, gewährten seine Werke einen Einblick in die
mentale Befindlichkeit seiner Epoche. Dies geschehe etwa so, dass er
den wackligen Wertekanon und die brüchigen Identifikationsmuster
der unmittelbaren Umgebung, die nicht selten auf Bildzeichen beruhen,
blosslege. Die meisten Kunstformen sind daneben ideale Medien des
Erinnerns, die vergangene Probleme bewältigen und zum entspannten
Umgang mit gegenwärtigen beitragen. Viele Künstlerinnen von Nancy
Spero - «Torture of Women» (1974-76) - bis Jenny Holzer -
«Lustmord» (1994) - haben sich im Geiste des Feminismus mit bereits
zugefügten Wunden beschäftigt und dadurch die Abwehrkraft und
denWillen zur Veränderung in Gegenwart und Zukunft gestärkt.

Dort, wo zeitgenössische Künstler, die moralisierende Position gänzlich
vermeidend, eingängige Geschichten erzählen - ohne
Vorschlaghammer, aber mit Fussangeln (Pipilotti Rist, Stan Douglas,
Peter Land, Matthew Barney) -, ist der Vorwurf schnell zur Hand, mit
ihrem Hang zum Ironisieren machten sie Anleihen bei der zum
permanenten Spass verdammten Eventkultur. Vergessen ist, dass Ironie
seit der Romantik ein geeignetes Mittel der Selbstreflexion und somit
der persönlichen und gesellschaftlichen Veränderung ist. Weitere
Strategien dieser Künstler - Unschärferelationen und Leerstellen, die
von der Imagination des Betrachters aufgefüllt werden müssen,
unvermutete Übergänge von der Welt des Traums in die der
Wirklichkeit - muten gleichfalls romantisch an. Das Geheimnis, das sich
so um die Kunstprodukte legt, verhindert, dass sie mit einem Event
gleichgesetzt werden, obwohl auf formaler Ebene - die Ästhetik des
Massenmediums Fernsehen ist übermächtig - Parallelen bestehen.

Dass Kunstschaffende ihre Werke mit den realen Gegebenheiten nur
noch auf Umwegen ineine Beziehung bringen, unterscheidet sie
gleichfalls von den Eventkulturaktivisten, die das aberwitzigste Produkt
aus ihrer Garküche mit demLeben, mit dem süssen Leben gleichsetzen.
Trotzdem sind die Differenzen manchmal so subtil, dass sich die
Besucher nicht nur im Themenpark, sondern auch im Museum für
Gegenwartskunst subjektzentriert verhalten können, indem sie sich nur
dem aussetzen, was Lust verspricht. Solche erlebnisorientierte
Menschen begegnen in den Werken anderer immer wieder ihrem Bild
von sich. Alles, was sie wahrnehmen, scheint sie in ihrem gegenwärtigen
Verhalten zu bestätigen, nichts kann sie verunsichern. Ihnen kommt die
«Festival Art» entgegen - ausladende Installationen mit Einbezug neuer
Medien wie Photographie und Video. Betrachtet man diese Kunst,
womöglich aus einiger Distanz, wird man ungerührt bleiben, ihren
Unterhaltungswert nicht begreifen. Solche Werke verlangen, dass man
eintaucht, sich ihrer Verführungskraft aussetzt. Angst vor vollständiger
Absorption braucht man keine zu haben, denn diese Kunst ist nicht
kontemplativ.

GENETIC ART

Wollen Künstler nach wie vor Gegenereignisse zur Kulturindustrie und
zur massenmedialen Information schaffen, um allenfalls Mauern in
denKöpfen einzureissen, dann dürfen sie vor Reizthemen wie dem
«genetic engineering» nicht zurückschrecken. Kunst sollte schon im
Stadium des Besitzergreifens der letzten freien Territorien der Natur
(und der Gesellschaft) den Menschen begreiflich machen, was bei der
schliesslichen Eroberung zu gewinnen und zu verlieren ist. Wenn das
Individuum die möglichen Lebensformen, die am Ende eines
wissenschaftlichen Innovationsschubs stehen, im Kunstwerk antizipiert
und durchschaut, kann es sich vielleicht gegen sie zur Wehr setzen.
Wobei zu hoffen ist, dass der tatsächliche Zustand und der supponierte
Entwicklungszustand nicht zusammenfallen, bevor die Möglichkeit zur
Intervention gekommen ist. Das Ideal einer engagierten Kunst, die als
Kommunikationsmittel aller Glieder der Gesellschaft funktioniert und
als Fixpunkt dient, mittels dessen die Einordnung oder Opposition in
der Gesellschaft begründet erfolgt, wäre sonst endgültig erschüttert. So
besteht immer die Gefahr, dass jede kulturelle und wissenschaftliche
Revolution ihre eigenen Ableger, die ihr vorausgeeilt sind, einholt und
frisst.

DAS GRÜNE KANINCHEN

Was übrig bleibt, sind Kunstwerke, die im Team unter Einsatz
verschiedenster Reproduktionstechniken entwickelt wurden und
deshalb den Charakter einer Ware nicht leugnen. Die Aura des
Originals, das mühselig im stillen Kämmerlein hergestellt wurde, lässt
sich nicht aufrechterhalten, dafür sind die Objekte wie eineWare, ganz
ohne Vermittler, konsumierbar. Intensiv in die Gesellschaft und ihre
Geschicke integriert, sind sie alles andere als zeitlos. Etwas von der
beschriebenen kurzen Verfallszeit haftet der «Genetic Art» an, die seit
kurzem zumindest in den einschlägigen Zeitschriften für Furore sorgt.
Eduardo Kacs GFP-Kaninchen ist mit einer fluoreszierenden
Biosubstanz genetisch aufgerüstet. In bläulichem Licht erstrahlt das
Tier von innen her grün. Eine solche Genmanipulation mag durchaus
kreativ sein, da sie neue Lebensformen schafft, sie ist an sich noch
keine Kunst. Erst dort, wo der Künstler das Tier, das auf den Namen
Alba hört, nach Hause nimmt und wie einen normalen Artgenossen
behandelt, wodurch die Laborkreatur sich natürlich fortpflanzt, wird
aus einem wissenschaftlichen Experiment Kunst.

Dazu gehört auch die vom Künstler inszenierte Debatte über
Wünschbarkeit und Gefährlichkeit der spontanen Ausbreitung
genetisch veränderten Erbmaterials, über Biodiversität oder über die
Kategorien der Reinheit und Normalität im Spannungsfeld von Kultur
und Natur. Die Partner - Kunst und Leben - reden also miteinander, ob
sie sich gleich gegenseitig befruchten, ist zweifelhaft.


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