This version was published in English and German in Zero -- The Art of Being Everywhere, Robert Adrian X and Gerfried Stocker, Editors (Graz, Austria: SteirischeKulturinitiative, 1993), pp. 24-32, 40-48, 62-69, 75-92. German translation by: Klaus Feichtenberger This paper discusses the history and theory of pre-Internet telecommunications art, from early avant-garde radio and Moholy-Nagy's Telephone Pictures to recent international collaborative works.
Aspekte einer Ästhetik der Telekommunikation
Eduardo Kac
Seit etwa fünfzehn Jahren kollaborieren weltweit immer mehr Künstler über Telekommunikation. Ziel ihrer Produktion in sogenannten Events ist nicht, wie in der bildenden Kunst üblich, das Endprodukt Bild oder Graphik, sondern ihre visuellen Produkte, unter Zuhilfenahme von Computern, Video, Modems und anderen Geräten hergestellt, stehen in einem viel breiteren, interaktiven, bi-direktionalen Kontext. Bilder/Graphiken werden vom Künstler nicht lediglich von einem Ort zu einem andern transferiert; es kommt vielmehr zu einem multidirektionalen visuellen Dialogo mit räumlich weit entfernten Partnern. Solche visuellen Dialoge beruhen unter anderem auf der Prämisse, daß sich Bilder im Lauf dieses Prozesses in ähnlicher Weise verändern, wie sich auch sprachliche Äußerungen in spontaner Face-to-Face-Kommunikation verändern - durch Unterbrechung, Ergänzung, Abwandlung und Rekonfiguration. Am Ende eines Events bleiben Bild und Graphik nicht als Produkt übrig, sondern als Dokumentation eines Prozesses, des von den Teillnehmern geführten visuellen Dialogs.
Dieses fortlaufende Experimentieren mit Bildern und Graphiken erweitert den Begriff des visuellen Denkens, das visuelles Material als Kommunikationsmittel benutzt, es austauscht und manipuliert. Telematische oder telekommunikative Kunst-Events, sind Teil einer Bewegung, die Netzwerke relativ leicht zugänglicher Medien - Telefon, Fax, PC, E-mail und Slow-Scan-TV (SSTV) - zugleich belebt und unterminiert. Schwerer zugängliche Medien - Radio, Live-TV, Videophon, Satelliten etc. - werden in geringerem Maß verwendet. Mit dem bloßen Hinweis auf die für solche Events eingesetzten Medien ist es allerdings nicht getan. Es geht darum, die Vorurteile zu beseitigen, die zwischen den genannten Medien und für den Kunstgebrauch angeblich legitimen Medien einen Unterschied machen wollen. Die erwähnten Events sind als legitime künstlerische Praktiken zu betrachten.
Der vorliegende Artikel vermittelt einen Teilüberblick über die Entwicklung dieses Bereichs und befaßt sich mit Kunst-Events, die entweder durch Telekommunikationsmedien angeregt oder eigens dafür konzipiert sind. Gegenstand unserer Darstellung ist der Übergang von den Anfängen, als das Radio Autoren und andere Künstler mit einem neuen Raum-Zeit-Paradigma konfrontierte, zu einer zweiten Phase, in der nun Telekommunikationsmedien, darunter auch Computernetzwerke, individuell zugänglich sind, in der zuweilen weltumspannende Kunst-Events produziert werden und der Kommunikationsprozeß selbst das eigentliche Kunstwerk ist.
In der Telekommunikationskunst könnte der Entmaterialisierungsprozeß des Kunstobjekts gipfeln, wie ihn Duchamp symbolisiert und wie er von Vertretern der Konzeptkunst, etwa von Joseph Kosuth, realisiert wurde. Wenn nun das Objekt vollständig eliminiert und auch der Künstler abwesend ist, findet der ästhetische Diskurs jenseits von Aktion als Form, jenseits von Idee als Kunst statt und beruht auf den Bezügen und Interaktionen zwischen den Benutzern eines Netzwerks.
KUNST UND TELEKOMMUNIKATION
Es geht uns um ein Verständnis der kulturellen Dimensionen neuer Kommunikationsformen, die in innovativen Kunstwerken erkennbar werden. Solche Kunstwerke sind nicht als unidirektionale Aussagen erfahrbar. Die Komplexität der modernen, vom Einfluß der elektronischen Medien durchdrungenen Gesellschaft, wo der Informationsfluß der Stoff ist, aus dem die Wirklichkeit besteht, macht eine Neubewertung traditioneller Ästhetik notwendig und eröffnet neue Entwicklungsmöglichkeiten. Mit anderen Worten: Über die Ästhetik der Telekommunikation zu reden bedeutet, daß man sich zunächst deren Auswirkung auf die traditionelle Kunst ansieht. Ferner ist zu untersuchen, inwieweit der Zusammenschluß von Computer und Telekommunikation einen Kontext für eine neue Kunst ergibt. Das neue Material, mit dem sich Künstler in immer größerem Maß auseinandersetzen werden, ist zu identifizieren und ausfindig zu machen an der Schnittfläche zwischen den neuen, von Telekommunikation und PC(Textverarbeitung, Computergraphik, Computeranimation, Fax/Modem, Satellit, conference calling etc.) irreversibel in Gang gesetzten elektronischen Prozessen visueller und sprachlicher Virtualisierung und den residualen, aus der Dematerialisierung des Kunstwerks resultierenden Formen, von Duchamp über die Konzeptkunst (Sprache, Video, elektronische Displays, Drucktechniken, Happenings, Mail Art etc.) bis zur Gegenwart. Diese neue Kunst ist kollaborativ und interaktiv und beendet den für die traditionelle Literatur und Kunst charakteristischen Zustand der Unidirektionalität.
Ihre Elemente sind Text, Ton, Bild und schließlich auf force-feedback beruhende virtuelle Berührung. Diese Elemente sind nicht Teil einer festen Ordnung; es sind Zeichen in Bewegung - als Gesten, als Blickkontakt, als Transfigurationen gegenseitig unerfüllter Bedeutungen. Was hin-und hergesandt wird, erfährt dabei immer neue Veränderung, wird schrittweise ausgetauscht. Diese neue Kunst ist auf eine ihr angemessene Weise zu erforschen, das heißt, ihr ureigener Kontext (die Informationsgesellschaft an der Schwelle des einundzwanzigsten Jahrhunderts) muß ebenso verstanden werden wie die aus ihr resultierenden Theorien (Poststrukturalismus, Chaostheorie, Kulturforschung), aus denen heraus sie weitgehend unhinterfragte Begriffe in Frage stellt: Subjekt, Objekt, Zeit, Kultur und menschliche Kommunikation Das Aktionsforum dieser neuen Kunst ist nicht der materiell stabile Bildraum der Malerei noch der euklidische Raum der skulpturalen Form, sondern der elektronische virtuelle Raum der Telematik, in dem die Zeichen schweben und Interaktivität die Begriffe Betracher bzw Connaisseur auslöscht und ersetzt durch den Anwender bzw. Teilnehmer, wobei das erste Begriffspaar Kontemplation, das zweite persönliches Erleben konnotiert. An der Ästhetik der Telekommunikation wird der notwendige Schritt von bildlicher Darstellung zu kommunikativer Erfahrung sichtbar. Zwei besonders interessante neue Kommunikationsformen, die das alte von Shannon und Weaver (1) vorgeschlagene und von Jakobson (2) bestätigte Sender-Empfänger-Modell auflösen, sind electronic mail (E-mail) und conference calling. E-mail ermöglicht es dem Anwender, eine Botschaft ohne konkrete Empfangsadresse aufzugeben und sie durch den elektronischen Raum driften zu lassen, woraufhin ein oder mehrere weitere Anwender auf diese Botschaft zugreifen und sie beantworten, verändern, kommentieren oder in einen neuen, größeren Kontext stellen können - ein nie endender Prozeß. Die abgeschlossene Botschaft, die notwendigerweise das Subjekt (den Sender) verkörpert, kann sich dabei auflösen und im Bedeutungswirbel des Netzwerks untergehen. Echtzeit spielt dabei keine Rolle. Anders bei conference calling, wo zwischen drei oder mehr Teilnehmern ein Austausch stattfindet, der sich nicht auf die Stimme beschränken muß. (3) Das Linearmodell läßt zwar immerhin eine Polumkehr zu, die aus dem Sender einen Empfänger macht, aber das neue multidirektionale Vernetzungsmodell hebt die Unterscheidung zwischen Sender und Empfänger überhaupt auf. Dieses System konfiguriert einen Raum ohne Richtungspole, in dem alternierende Monologe durch Diskussion ersetzt werden - einen Raum, dessen Knotenpunkte Verbindungen in mehrere Richtungen ermöglichen und wo jeder Teilnehmer zugleich (und nicht abwechselnd) Sender und Empfänger ist. Dies ist kein piktorialer oder volumetrischer Raum, sondern ein aporetischer Raum des Informationsflusses, ein auseinandergerissener Hyperraum, in dem sich die topologische Starrheit des Linearmodells löst. Es hat die Eigenschaften nicht-linearer Systeme - man denke an Hypermedia oder an die statistische Autosimilarität von Fraktalen, im Gegensatz zu den verschönten linearen Oberflächen postmoderner Malerei. Hier können Künstler kritisch intervenieren und Neudefinitionen des Netzwerks und der Telematik schlechthin einbringen - ein Beispiel dafür, wie opponierende Größen einander konstituieren. Das, was wir wahr und real nennen, hat sich immer schon reziprok und dynamisch aus dem Unwahren und Irrealen konstituiert, eben aus dem Spiel von Gegensätzen. Auch kulturelle Werte werden in Frage gestellt, da die Strukturen, die eine bestimmte Kultur vor anderen privilegiert haben, konzeptuell verändert werden und kulturelle Unterschiede in den Vordergrund rücken. In der Arbeit mit den neuen Medien können Künstler demonstrieren, welche Rolle diese Medien in der Erhaltung stabiler Strukturen spielen, die das Selbst, seine Kommunikation und seine sozialen Beziehungen (einschließlich der Autoritäts-und Machtverhältnisse) bestimmen.
Ähnlich konstituiert sich auch der Künstler-Publikum-Bezug aus Gegensätzen. Verdanken sich die landläufigen Begriffe Autor und Leserschaft dem massenproduzierten gedruckten Buch, (wobei die Verbreitung gedruckter Information mit Macht zu assoziieren ist), so lösen sich potentiell beide Begriffe in dem durch telematische Netzwerke dezentrierten Spiel der Bedeutungen auf, ohne daß dadurch das von McLuhan erträumte integrierte und harmonisierte aurale Global Village vollständig etabliert würde. Telekommunikation mag die Menschen einander näherbringen, aber sie schafft zugleich Distanz. Telematik macht Information jederzeit für jedermann von jedem beliebigen Ort aus zugänglich, aber sie macht auch bestimmte Daten - in bestimmter Form von bestimmten Gruppen generiert - für Leute zugänglich, die konkrete Institutionen vertreten. Was also die Menschen einander näherbringt, trennt sie zugleich. Wer Fragen stellt, bestätigt zugleich die in der Frage implizierten Werte. Wenn dies auch ein Spiel ohne Ende ist, so muß doch zumindest sein Kontext bewußt gemacht werden, aber nicht einmal die Bewußtwerdung steht außerhalb dieses Spiels, sonden konstituiert sich wiederum daraus.
Dem linearen Kommunikationsmodell, das dem Künstler eine privilegierte Stellung von Botschaften (Bildern, Skultpuren, Texten, Fotografien) einräumt, setzt die Telematik ein multidirektionales Kommunikationsmodell entgegen, in dem der Künstler Kontexte schafft und Interaktionen ermöglicht. Im ersten Fall ist die Botschaft durch physische und semiotische Integrität gekennzeichnet; offen ist sie nur, was die Bandbreite möglicher Interpretationen angeht. Im zweiten Fall bedeutet Offenheit mehr als semantische Ambivalenz. Die Offenheit im zweiten Fall neutralisiert geschlossene Bedeutungssysteme und stellt dem einstigen Betrachter (der nunmehr zum Teilnehmer geworden ist) dieselben Manipulationsmittel und Kodes zur Verfügung wie dem Künstler, so daß die Bedeutungen zwischen beiden ausgehandelt werden können. Dabei handelt es sich nicht um eine einfache Polumkehr, wie Enzensberger (4) sie vorschlägt, sondern um die Anerkennung eines Prozesses von Bedeutungsbildung und den Versuch, damit zu arbeiten. Dieser dynamische, destabilisierte, multivokale Prozess beruht nicht auf der Opposition Künstler/Publikum, sondern gleichermaßen auf Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Künstler und Publikum.
Botschaften sind nicht mehr Werke, sondern Teil eines größeren Kommunikationskontexts, und sie sind praktisch durch jedermann veränderbar. Problematisch in diesem Zusammenhang ist der Umstand, daß der Künstler durch die Aufhebung des Unterschiedes zwischen ihm und dem Publikum sein Privileg als Sender verliert, denn es gibt nun weder Botschaft noch Kunstwerk im herkömmlichen Sinn. Begreiflich, daß die meisten Künstler nicht bereit sind, auf diese Hierarchie zu verzichten. Schließlich ist Kunst dann nicht mehr profitabel, und auch die soziale Sonderstellung des Künstlers, die an Begriffen wie Können, Individualität, Genie, Inspiration und Persönlichkeit festgemacht ist, geht verloren. Schließlich sieht sich der Künstler als jemand, der angehört werden soll, der der Gesellschaft etwas Wichtiges zu sagen hat (5). Andererseits erhebt sich die Frage, inwieweit nicht der Künstler, der ein Telekommunikationsereignis in Gang setzt, dieselbe Hierarchie, auf die er verzichtet, neu etablieren kann, indem er als Organisator, Regisseur oder Autor des von ihm initiierten Events auftritt, das heißt, als die zentrale Figur, von der der Bedeutungsprozeß zunächst seinen Ausgang nimmt. Auch TV-Regisseure arbeiten mit zig, ja hunderten Mitarbeitern, ohne dadurch die Alleinverantwortung für das Resultat aufzugeben. In ähnlicher Weise generiert der Künstler, der (als Autor eines Kontexts) ein Telekommunikations-Event produziert, ein Netzwerk, ohne den Zeichenfluß vollständig kontrollieren zu können. Der mit Telekommunikationsmedien arbeitende Künstler tritt zwar die Verantwortung für ein Werk ab, begründet jedoch die Verantwortung (im Sinne Baudrillards) für das Medium mit dem Telekommunikationsereignis (6). Ich stelle fest, daß gewisse Spuren eines unkritischen Enthusiasmus über diese Veränderung künstlerischer Prozesse und Belange nicht nur im vorliegenden Essay und in anderen meiner Publikationen zu diesem Thema zu finden sind (7), sondern auch in den Schriften anderer Künstler über die Ästhetik der Kommunikation im allgemeinen und der Telekommunikation und Telematik im Besonderen - ich denke an Bruce Breland (8), Roy Ascott (9), Karen ORourke (10), Eric Gidney (11) und Fred Forest (12). Die Künstler verfügen nun über ein neues Instrumentarium zur Reflexion über zeitgenössische Themen: kulturelle Relativität, Indeterminiertheit der Wissenschaften, die politische Ökonomie des Informationszeitalters, literarische Dekonstruktion und die Dezentralisierung des Wissens. Die Künstler können heute auf diese Themen mit denselben materiellen (Hardware) und immateriellen (Software) Mitteln reagieren, die auch andere soziale Bereiche in deren Aktivität, Gemeinsamkeit und Isolation gebrauchen. Wenn reale Mauern (die Berliner Mauer, der Eiserne Vorhang) fallen und metaphorische Mauern sich auflösen (durch den telematischen Raum, virtuelle Realität, Telepräsenz), so kann man diese historischen und technischen Leistungen nicht einfach übersehen. Der Einsatz von Kommunikationstechnologie ist nicht nur vom Enthusiasmus der Künstler über neue Werkzeuge geprägt, sondern auch von Kritik und Skepsis, was die veränderte Logik der Mediation betrifft. Das bedeutet etwa, eines nicht zu übersehen: Die Utopie eines dichtmaschigen elektronischen Kommunikationsnetzes schließt notwendigerweise alle Kulturen und Länder aus, die (gewöhnlich aus politischen oder ökonomischen Gründen) über keine entsprechende Technologie verfügen und sich daher am globalen Austausch nicht beteiligen können (13).
Angenommen, Jaron Laniers Traum von einer post-symbolischen Kommunikation (14) wird in nicht allzu ferner Zukunft wahr und die Zeitgebühren für die Benutzung einer Cyberspace-Matrix ist nicht höher als die heutigen Telefongebühren, dann wären damit zwar Sprachbarrieren (auch solche aufgrund von Sprachstörungen) durchbrochen, aber ökonomische Ungleichheit bliebe dennoch bestehen: schließlich hat in den meisten Entwicklungsländern selbst simple Telefontechnologie noch mit gravierenden Problemen zu kämpfen.
Vielleicht bedienen sich Künstler in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Themen gerade wegen und nicht trotz solcher Probleme moderner technischer Mittel. Wenn Telekommunikationskunst die von den Medien ererbten und auch in anderen technologischen Monopolen der postindustriellen Gesellschaft vorhandenen Widersprüche nicht einfach ignoriert, dann können, wie ich immer noch glaube, aus neuen interaktiven künstlerischen Praktiken freiere Kommunikationsformen hervorgehen, die den Austausch von Symbolen zum Wesentlichen der Arbeit machen.
ENTKÖRPERTE STIMMEN
Betrachtet man die parallele Entwicklung der Telekommunikationsmedien und neuer Kunstformen im Lauf des 20. Jahrhunderts, so zeichnen sich interessante Übergangsphänomene ab. Da ist zunächst einmal der Einfluß neuer Medien auf weitaus ältere zu erkennen, etwa der Einfluß des Radios auf das Theater. Danach kommt es zu vermehrt experimenteller Arbeit mit diesen Medien, und schließlich beherrschen die Künstler die neuen elektronischen Medien und erkunden deren interaktives und kommunikatives Potential. Der Rundfunk war in dieser Hinsicht das erste von Künstlern genutzte Massenkommunikationsmittel.
Ende der 20er Jahre steckte die Kommerzialisierung des Äthers noch in den Kinderschuhen. Das neue Medium Rundfunk erreichte die Phantasie der Hörer über einen auditiven Raum, in dem sich Bilder ohne raum-zeitliche Begrenzung evozieren ließen. Als ferne, nicht erkennbare Schallquelle, losgelöst von optischen Eindrücken, eröffnete das Radio dem Hörer dessen eigene mentale Landschaft und hüllte ihn in einen akustischen Raum, der sowohl Sozialisierung als auch privates Erleben bot. Das Radio was das erste Massenmedium im eigentlichen Sinn des Wortes: Es erreichte gleichzeitig Millionen Menschen - anders als beispielsweise das Kino, das immer nur einem lokalen Publikum zur Verfügung steht.
1928 wurde der deutsche Filmemacher Walter Ruttmann (1887-1941) vom Berliner Rundfunk beauftragt, ein Stück für den Rundfunk zu produzieren. Ruttmann genoß bereits dank seinen abstrakten Animationsfilmen internationale Anerkennung. Seine Arbeiten Opus I/bis Opus IV waren Pionierleistungen des Genres und deuteten ein halbes Jahrhundert weit voraus auf die Möglichkeiten der Computeranimation. Auch sein experimenteller Dokumentarfilm Berlin, die Symphonie der Großstadt (1927) hatte welweit Anerkennung gefunden und eine ganze Generation von Filmemachern zu weiteren Städtesymphonien inspiriert. Abgesehen von seinen filmischen Leistungen machte Ruttmanns innovative Arbeit den Rundfunk für die Ästhetik der Avantgarde nutzbar und wirkte der von kommerziellen Sachzwängen diktierten Programmstandardisierung entgegen.
Um besagten Auftrag zu realisieren, stand Ruttmann eines der besten Filmton-Aufnahmesysteme der Welt zur Verfügung, der sogenannte Triergonprozeß. Aus der Welt des Films kommend, beschloß er, einen Film ohne Bilder zu machen. Das Stück mit dem Titel Wochenende war die ausschließliche Tonprojektion mentaler Bilder. Ruttman verwendete den Filmton genauso, wie er einzelne Kader zur Aufzeichnung von Bildern verwendet hätte. Wochenende dauert ungefähr 15 Minuten und evoziert eine aurale Atmosphäre, in der Arbeiter am Ende der Arbeitswoche aus der Stadt hinausfahren auf das Land. Zunächst herrschen Säge, Auto-und Zuggeräusche vor, die dann in Vogelgezwitscher und Kinderstimmen übergehen. Wie Die Symphonie der Großstadt wurde auch dieser bildlose Streifen in experimenteller Weise geschnitten: bestimmte Geräusche wiederholten sich, wobei deren Reihenfolge und Länge variierten. Ruttmann schnitt den Ton wie andere Film schnitten.
Als Tonmontage, konzipiert für ein bestimmtes Aufnahmemedium und für Rundfunkübertragung, eröffnete Wochenende neue Arbeitsfelder und ließ eine Ästhetik der Bewegung, wie sie in der konkreten Musik, bei John Cage und Karlheinz Stockhausen entwickelt wurde, vorausahnen. Ruttmann bezeichnete seine Filme als optische Musik. Wochenende könnte man durchaus als den ersten akustischen Film bezeichnen, der für das Radio geschaffen wurde.
In dem Maß, in dem das Medium Radio populärer wurde, inspirierte und faszinierte es Kreative unterschiedlichster Fachrichtungen - Vertreter der bildenden wie der darstellenden Künste, Autoren und Avantgardisten verschiedener Bereiche, etwa die italienischen Futuristen. Seit den ersten Anfängen des Futurismus im Jahr 1909 traten Marinetti und seine Anhänger für die Überwindung traditioneller und die Erfindung neuer Formen ein, während sie die technologische Militarisierung und den Krieg verherrlichten. Marinetti kollaborierte eng mit Mussolinis Regime. 1929 wurde er Mitglied der von Mussolini gegründeten italienischen Akademie. 1939 arbeitete er in einer von den Faschisten einberufenen Kommission zur Zensur unerwünschter Bücher. Als unerwünscht galten unter anderem alle Werke jüdischer Autoren. 1935 nahm er als Freiwilliger am Äthiopienfeldzug teil und kämpfte 1942, auch diesmal als Freiwilliger, an der russischen Front.
Zuletzt forderten die Futuristen im September und Oktober 1933 in ihren von Marinetti und Pino Masnata unterzeichneten Manifesten Della Radio und La Radia eine neue Kunstform. Die Manifeste erschienen am 22. September in der Turiner Gazzetta del Popolo und am 1. Oktober in Rom in ihrer eigenen Zeitschrift Futurismo.
Der Artikel in Futurismo war von Marinetti allein unterzeichnet (15). Das Manifesto della Radio entstand zwei Jahre nach Masnatas Libretto Tum Tum Lullaby (or Wandas Heart) für eine Radio-Oper. In dem Manifest wurde die Befreiung des Radios von künstlerischen und literarischen Traditionen gefordert. Das Radio sollte dort weitermachen, wo Theater und Kino aufhörten. Das Geräusch-und-Stille-Projekt der Futuristen wurzelte offensichtlich in Russolos Geräuschkunst. So wie Russolo ging es den Futuristen darum, die Bandbreite der für den Radiokünstler verfügbaren Quellen zu erweitern. Marinetti und Masnata schlugen vor, von Lebewesen und Materie ausgesandte Schwingungen aufzunehmen, zu verstärken und umzuwandeln.
Konkrete und abstrakte Geräusche sollten gemischt und der Gesang von Pflanzen und unbelebten Gegenständen, etwa Diamanten, sollte verwendet werden. Der Radiokünstler (radiasta), meinten sie, würde befreite Worte (parole in libertá) kreieren, indem er die absolute typographische Freiheit, die futuristische Autoren in ihren visuellen Lyrikkompositionen ausloteten, phonetisch umsetzte. Aber selbst wenn der Radiokünstler keine befreiten Worte in den Äther senden würde, sollten seine Sendungen zumindest dem (auf unseren befreiten Worten beruhenden) Freiwortstil entsprechen, der bereits die Avantgarde-Romane und den Zeitungsstil bestimmt - ein Stil, geprägt von Tempo, Kühnheit, Simultaneität und Synthetik.
Das futuristische Radio konnte isolierte Wörter verwenden und Verben im Infinitiv wiederholen. Es konnte die Musik der Gastronomie, der Gymnastik und der Liebe erforschen und aus simultanen Geräuschen, Harmonien, Clusters und Stille gradierte Crescendi und Diminuendi komponieren. Senderinterferenzen konnten ebenso Teil einer Arbeit sein wie geometrische Konstruktionen des Schweigens. Indem sich das futuristische Radio an die Massen richtete, fiel das Konzept und Prestige eines spezialisierten Publikums weg, dessen Einfluß das Kunstwerk immer schon deformiert und abgewertet hatte. Am 24. November 1933 sendete Radio Milano die ersten futuristischen Radioprogramme von Fortunato Depero und Marinetti (16).
1941 publizierte Marinetti eine Anthologie des futuristischen Theaters mit dem langen Titel Das futuristische Theater - synthetisch (dynamisch-unlogisch-autonom-simultan- visionistisch), überraschend, aeroradiotelevisuell, music hall, radiophon (ohne Kritik, aber Augenzeugen geschildert. Die public Öffentlichkeit reagierte mit Bestürzung und Schrecken. Zwar kam niemand ums Leben, aber etliche Personen wurden verletzt, es gab Frühgeburten, die Leute flüchteten aus ihren Häusern, der Straßenverkehr kam zum Erliegen, Polizei und Feuerwehren wurden gegen die unsichtbare Bedrohung mobilisiert. Viele Bewohner von New York packten ihre Autos voll und versuchten, möglichst weit von New Jersey fortzukommen. Die Telefonleitungen in Newark, New Jersey, waren durch die Flut der Anrufe überlastet, und selbst im Südwesten der USA brachen wegen der vielen Anrufe von der Ostküste die Verbindungen zusammen. Hunderte von Ärzten und Klinikpersonal boten in Krankenhäusern freiwillig ihre Hilfe an. In Concrete, Washington, fiel zufällig genau in dem Moment der Strom aus, als die Marsmenschen das E-Werk stürmten. Im Süden der USA suchten die Menschen in Kirchen Schutz, und in Pennsylvanien wurde eine Frau nur dadurch vor dem Selbstmord gerettet, daß ihr Mann gerade noch rechtzeitig nach Hause kam. Erboste Hörer klagten Welles und CBS bei Gericht, jedoch ohne nennenswerte Konsequenzen. Dank seinem Vertrag konnterfur etwaige Folgen seiner Sendungen nicht verantwortlich gemacht werden, und über CBS konnte keine schwere Strafe verhängt werden, weil es kein Präzedens gab, aufgrund dessen man den Lauf der Dinge hätte vorhersehen können.
Welles simulierte Invasion von Marsbewohnern demonstrierte zum ersten Mal die tatsächliche Macht des Rundfunks. Es wurde deutlich, wie das Radio die Phantasie des Hörers zu erregen vermag - etwa durch das Spiel des Atems in der Sprecherstimme und durch die Plastizität von Geräuscheffekten. Deutlich wurde auch, wie die technische Zuverlässigkeit des Mediums zu dessen Glaubwürdigkeit beiträgt und die übertragenen Nachrichten als real erscheinen läßt.
Das Stück experimentierte auch mit bestimmten zeitlichen Rhythmen, mit der Vermischung von Echtzeit (die Sendung dauerte ungefähr eine Stunde) und dramatisierter Zeit (am Ende erfährt man von Professor Pierson, daß sich die Handlung über mehrere Tage erstreckt hat). Die Stille an den Übergängen von Musik zu Nachrichtenton und umgekehrt war nicht nur ein Nullgeräusch, sondern eine Musikpause. Dem Hörer erschienen diese Zwischenräume als die Zeit, die zur Verbindungsaufnahme zwischen dem Reporter vor Ort und dem Sendestudio nötig ist. Besonders bedeutsam ist die Tatsache, daß die Panik, die tausende Hörer erfaßte, absolut real war.
Die Invasion war ein Ereignis, das innerhalb des Mediums Radio stattfand, und dieses Medium war für die Hörer bereits so sehr zu einem Teil ihres Lebens geworden, wurde als so transparent empfunden und war so sehr über jeden Zweifel erhaben, daß die Sendung nicht als Repräsentation oder Spiel erlebt wurde. Sie war, im Sinne Baudrillards, hyperreal - eine Situation, in der Zeichen, die gar nicht in der Realität verankert sind, realer sind als die Realität (18). Welles machte die Pseudotransparenz der Massenmedien sichtbar, indem er die Mechanismen bloßlegte, mit deren Hilfe sich das Medium als ungetrübter Ausblick auf die Wirklichkeit darstellt und die eigene Medialität ebenso leugnet wie seinen Einfluß auf das kollektive Unbewußte der Gesellschaft. Welles zog zweifellos den Zorn aller Gesetzgeber mit einem Hang zur Zensur auf sich. Die simulierte Invasion der Marsbewohner hatte das Radio im besonderen und die elektronischen Medien insgesamt für immer verändert.
TELEFONBILDER
Telefon, Automobil, Flugzeug und natürlich auch das Radio waren für die Avantgardekünstler der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts Symbole des modernen Lebens. Es waren Erweiterungen der menschlichen Wahrnehmung und anderer Fähigkeiten. Die Dadaisten hingegen teilten den technisch-rationalen Enthusiasmus nicht und kritisierten die Technik als destruktiv. In dem von Richard Huelsenbeck 1920 in Berlin herausgegebenen Dada-Almanach gaben sie den Malern die Empfehlung, ihre Bilder künftig per Telefon beim Schreiner zu bestellen. Die Idee war als provokativer Scherz gemeint. Zur selben Zeit lebte in Berlin der ungarische Konstruktivist Moholy-Nagy (1895-1946). Ob er die Publikation gelesen oder davon gehört hatte, ist ungewiß. Fest steht, daß das künftige Bauhaus-Mitglied intellektuelle künstlerische Motive für ebenso berechtigt hielt wie emotionale. Er beschloß, den Beweis dafür anzutreten, und schrieb Jahre später:
1922 bestellte ich per Telefon bei einer Schilderfabrik fünf Email-Bilder. Ich hatte die Farbtafel der Firma vor mir und skizzierte die Bilder auf Konstruktionspapier. Am andern Ende des Telefons hatte der Vorarbeiter dasselbe karierte Papier vor sich liegen. Er zeichnete die von mir diktierte Form anhand der korrekten Positionen ein. (Es war wie ein Schachspiel per Post.) Eins der Bilder wurde in drei verschiedenen Größen geliefert, damit ich die feinen, durch Vergrößerung und Verkleinerung bewirkten Veränderungen farblicher Bezüge studieren konnte. (19) Mit diesen drei Telefonbildern führte der Künstler seine konstruktivistischen Ideen um einige Schritte weiter. Zunächst mußte er die Position der Formen auf der Bildebene exakt festlegen. Das karierte Papier diente ihm dabei als Raster. Dieser Pixellierungsprozeß war gewissermaßen eine Vorausahnung der auf Rasterung beruhenden Computerkunst. Um die Komposition über das Telefon zu beschreiben, mußte Moholy das Kunstwerk, von einer physischen Ganzheit ausgehend, in eine Objektbeschreibung konvertieren und einen Bezug semiotischer Äquivalenz herstellen, ein Vorgang, der Überlegungen der Konzeptkunst in den 60er Jahren vorwegnahm. Als nächstes erfolgte die Übertragung der Bilddaten als wesentlicher Teil des Gesamtprozesses. Diese Übertragung verdeutlichte den Gedanken, daß der moderne Künstler dem Werk subjektiv, also persönlich fern sein kann.
Der Gedanke, daß das Kunstwerk nicht unbedingt das unmittelbare Ergebnis manueller Tätigkeit des Künstlers sein muß, wurde so bestärkt. Moholys Entschluß, eine Schilderfabrik anzurufen, die industrielle Fertigung und wissenschaftliche Präzision bot, und nicht etwa einen Amateurmaler, bestätigt seine Motive. SchlieBlich durchkreuzte die dreifache Herstellung des Endprodukts die Vorstellung vom Original und wies bereits in die Richtung neuer Kunstformen, die im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit entstanden. Anders als Monets Serienbilder stellen die drei ähnlichen Telefonbilder keine Serie dar. Es sind Kopien ohne Original. Ein weiterer interessanter Aspekt dieser Arbeit besteht darin, daß die Größe als fundamentaler Aspekt jedes Kunstwerks relativiert und sekundär wird. Das Kunstwerk verflüchtigt sich, indem es in verschiedenen Größen verkörpert werden kann. Die Relativität des Maßstabs ist natürlich ein wesentlicher Aspekt der Computerkunst, wo die Arbei im virtuellen Bildschirmraum existiert und ebenso in Form eines kleinen Ausdrucks verkörpert sein kann wie als Wandbild von riesigen Ausmaßen.
Hier klingt eine Reihe interessanter Gedanken an - dennoch ist die Sache mit dem Telefonbild voller Widersprüche. Moholys erste Frau Lucia, mit der er damals lebte, behauptet, er sei in Wahrheit persönlich hingegangen, um die Bilder zu bestellen, ihr zufolge war er, als die Emailbilder geliefert wurden, so begeistert, daßerausrief: Das hätte ich sogar übers Telefon tun können! (20) Der dritte persönliche Bericht über die Sache - meines Wissens gibt es nur drei Berichte - stammt von Sybil Moholy-Nagy, der zweiten Frau des Künstlers:
Er mußte sich selber den Supra-Individualismus des konstruktivistischen Konzepts beweisen, also das Vorhandensein objektiver visueller Werte unabhängig von der Inspiration des Künstlers und von seiner speziellen peinture. Er diktierte seine Bilder dem Vorarbeiter in einer Schilderfabrik unter Verwendung einer Farbtafel und eines karierten Auftragsformulars, um die Position der Formelemente und deren exakten Farbton festzulegen. Der so übertragene Entwurf wurde in drei Größen ausgeführt, um anhand unterschiedlicher Dichte und räumlicher Bezüge die Bedeutung der Struktur und die davon beeinflußte emotionale Wirkung zu demonstrieren. (21)
Die von den Kommentatoren meist übergangene Frage, ob Moholy nun tatsächlich ein Telefon verwendet hat oder nicht, bleibt also offen. Sie mag als irrelevant erscheinen - schließlich wurden alle drei Arbeiten, nach Angaben des Künstlers von einem Angestellten der Schilderfabrik gemalt und von ihm selbst als Telefon-Bilder bezeichnet -, aber sie kann nicht völlig unbeachtet und unbeantwortet bleiben. Lucias Erinnerung an die Sache scheint ungetrübt - dennoch wird man die Schilderung des Künstlers selbst akzeptieren müssen, solange nicht etwas anderes als erwiesen gilt. Man nimmt gern an, daß die Bilder telefonisch bestellt wurden, da Moholy sich für technische Neuerungen im allgemeinen und für Telekommunikation im besonderen begeisterte. In dem 1925 erschienenen Buch Malerei, Fotografie, Film (22) reproduzierte er zwei drahtlos telegraphierte Fotografien und eine Sequenz von zwei Bildern, die er telegaphiertes Kino nannte, alles Arbeiten von Prof. A. Korn. Im selben Buch scheint Moholy dieses Kapitel mit dem Aufruf abzuschließen, man möge doch dem Zeitalter der Telekommunikation entsprechende neue Kunstformen entwickeln:
Die Menschen schlagen einander immer noch tot, sie verstehen bis heute nicht, wie und warum sie eigentlich leben; die Politiker begreifen noch immer nicht, daß die Erde ein Ganzes ist, obwohl inzwischen das Fern-Sehen erfunden ist. Morgen werden wir imstande sein, unseren Mitmenschen ins Herz zu blicken, überall anwesend und doch allein zu sein. (...) Wenn es einmal die Phototelegraphie gibt, die es ermöglichen wird, in Sekundenschnelle Reproduktionen und exakte illustrationen herzustellen, werden sich philosophische Werke vermutlich derselben Mitteln bedienen wie die heutigen amerikanischen Zeitschriften - wenn auch auf einem höheren Niveau. (23) Die drei Telefonbilder Moholy-Nagys, die 1924 in seiner ersten Einzelausstellung in der Berliner Galerie Der Sturm ausgestellt wurden, deuten darauf hin, daß der Künstler die Möglichkeiten der telefonischen Übertragung erkannt hatte. Dieses erste Beispiel einer solchen Übertragung wurde in der Ausstellung Art by Telefone im Museum of Contemporary Art in Chicago (1. November bis 14. Dezember 1969) als Vorläufer der Konzeptkunst der 60er Jahre gewürdigt. 36 Künstler wurden gebeten, das Museum anzurufen oder einen Anruf von dort entgegenzunehmen und dem Museumspersonal Anweisungen bezüglich ihrer Ausstellungsbeiträge zu geben. Das Museum produzierte diese Arbeiten und stellte sie aus.
Ein Katalog mit Schallplatte enthielt Aufzeichnungen der Telefongespräche. Jan van der Marck, der Leiter des Museums, stellte fest, daß hier zum erstenmal in einer Gruppenausstellung die ästhetischen Möglichkeiten ferngesteuerter künstlerischer Produktion erprobt worden waren: Das Telefon dem Kreativprozeß dienstbar zu machen und es als Verbindung zwischen Kopf und Hand einzusetzen - das ist noch nie in formaler Weise versucht worden. (24) Städte, Namen und Telefonnummern aus und forderte die Besucher auf, eine der Nummern anzurufen und nach Art zu fragen. Das Kunstwerk war das unerwartete Telefongespräch zwischen Art und dem Besucher - allein an diesen beiden lag es, was dabei herauskam. Auch wenn Huots Beitrag nur als Wortspiel mit dem Ausstellungstitel gedacht sein mochte, macht er doch den Künstler zum Urheber eines Kontexts (im Gegensatz zu einer passiven Erfahrung). Die Arbeit befaßt sich nicht mit bildlicher Repräsentation, verzichtet auf die Kontrolle über das Werk und nutzt die echtzeitlichen und interaktiven Möglichkeiten des Telefons. Die Absicht dahinter war, Beziehungen zwischen Menschen in Gang zu setzen. Insofern war die Arbeit richtungsweisend für die Telekommunikationskunst der nachfolgenden zwei Jahrzehnte.
VISUELLE TELEFONIE UND MEHR
Bedenkt man das Ausmaß der sozialen, politischen und kulturellen Implikationen des Telefons oder, konkreter, seiner dialogischen Struktur, so kann man nicht umhin, den Mangel an kritischen Stellungnahmen anzumerken. Historische, technische und quantitative soziologische Studien können die tiefergelegene Problematik des Telefons nur wenig erhellen, die eher in die Bereiche Linguistik, Semiotik, Philosophie und Kunst einzuordnen ist. Avital Ronell hat ein philosophisches Ferngespräch vorgelegt, eine höchst willkommene Arbeit von größter Originalität. Indem sie ihren eigenen Diskurs anhand eines metaphorischen Schaltpults, an dem Verbindungen und Umleitungen hergestellt werden, zwischen gesprochener Rede und Schrift oszillieren läßt, bietet Ronells Arbeit (26) neue philosophische Einsichten, eine Art Telefonkonferenz zwischen Martin Heidegger, Sigmund Freud, Jacques Derrida und natürlich Alexander Graham Bell. Ronells Gestus erinnert, wenn auch auf einer anderen Ebene, an jenen der Künstler in den 70er, die das Telefon als eine einzigartige Quelle experimenteller Ansätze betrachteten. Warum gerade das Telefon?
In mancher Hinsicht war das Telefon die sauberste Möglichkeit, jede beliebige metaphysische Gewißheit anzutasten. Es destabilisiert die Identität des Selbst und des Andern, von Subjekt und Sache, es hebt das Originäre des Ortes auf. Es unterminiert die Autorität des Buches und eine ständige Existenzbedrohung für die Literatur. Es ist sich seiner eigenen Identität als Objekt, Werkzeug und Kunstwerk, seiner perlokutionären Intensität nicht gewiß (die Anfänge der Telefonie sprechen für ihren Platz in der Kunst); es bietet sich an als Instrument des Erschreckens vor dem Schicksal, und das Trennende des Telefons ermöglicht gewissermaßen die Etablierung des mütterlichen Superego. (27)
Die Anfänge der Telefonie sprachen für den künstlerischen Nutzen des Telefons; er beruht auf der Möglichkeit, Schall über weite Entfernungen zu senden, also auf der Ähnlichkeit mit dem heutigen Radio. Bell und andere Pioniere hofften, es würde einst möglich sein, Opern, Konzerte und Theateraufführungen per Telefon mitzuverfolgen. Als Bell seine ersten Vorträge und Vorführungen machte und die Übertragung in zwei Richtungen noch ein technisches Hindernis war, wurde Watsons Orgelspiel und Gesang telefonisch übertragen, um das Publikum zu unterhalten und die Möglichkeiten des neuen Mediums vorzuführen. Mehrere Jahrzehnte später vermehrte das Telefon zwar die Zahl geschäftlicher Transaktionen, aber sein Einsatz im trauten Heim löste gemischte Gefühle aus. John Brooks (28) weist darauf hin, daß sich H.G. Wells in seinem Buch Experiment in Autobiographie (1934) über die durch das Telefon ermöglichte Störung der Privatsphäre beklagte. Wells gab seinem Wunsch einem Einwegtelefon Ausdruck, über das wir uns nach Neuigkeiten erkundigen können, wenn uns danach ist. Sind wir aber nicht in der Verfassung, Nachrichten zu empfangen und zu verdauen, so sollte man sie uns auch nicht aufdrängen können. (29)
Wells beschwor das Bild eines künftigen All-news-Radiosenders, wie er später unter dem EinfluB des Fernsehens (siehe McLuhan) ja auch entstand. Noch bedeutsamer war seine Reaktion auf das Erschrecken vor dem Schicksal, wie es Ronell nannte, und auf das Trennende des Telefons, das Unbehagen auslöst und zugleich fasziniert. Wells hebt hervor, daß das Telefon ihn selbst dann mit Nachrichten belästigt, wenn er keine hören will,und spricht damit den projektiven Aspekt des Telefons an, das gesprochene Sprache, und nur diese, in Richtung eines Empfängers schicken kann, dessen permanente Empfangsbereitschaft es fordert. Diese Forderung findet im Bereich der Sprache statt und wird treffend mit einer Frage erwidert, die zugleich eine zweifelnde Antwort ist: Ja?
Das Ungewöhnliche am ganz gewöhnlichen Telefon besteht vielleicht darin, daß in seinem Leitungssystem ausschließlich gesprochene Sprache zirkuliert. Das Telefon betont, wie Robert Hopper andeutet (30), die Linearität des Zeichens, indem es den Ton von allen anderen Sinneskanälen trennt, also das Kommunikationselement Stimme heraushebt aus seiner natürlichen Kongruenz mit Mimik und Gestik. Indem die Wechselbeziehung zwischen dem Auditiven und dem Visuellen und Taktilen unterbrochen und die Textgemeinschaft auseinandergerissen wird, abstrahiert das Telefon Kommunikationsprozesse und verstärkt den westlichen Phonozentrismus (31), steigert ihn zum raumgreifenden Telefonozentrismus. Theoretiker wie Ronell und Telekommunikationskünstler konstruieren ihre Botschaften mit der Absicht, diesen Phonozentrismus zu destabilisieren und in der Folge die vertehende Hierarchie und Zentralisierung von Bedeutung. Wissen und Erfahrung aufzulösen. Im zwanzigsten Jahrhundert läßt sich der von Derrida so genannte Phonozentrismus bis Saussure zurückverfolgen. Hopper weist vorsichtig auf Saussures Bindung an das Telefon hin und untermauert seine Argumentation mit dem Hinweis, daß Saussure in Paris wohnte, als dort das Telefon seinen Boom erlebte. Mehr noch: Er erinnert daran, daß das Telefon von einem Sprachlehrer für Gehörlose (Bell) erfunden wurde, und hebt die unübersehbaren Parallelen zwischen Saussures Kreislauf des Sprechens und telefonischer Kommunikation hervor (32). Die beinah labormäßige vokale Isolation der Telefonie und die Abwesenheit der Gesprächspartner bringt die lineare Struktur gesprochener Sprache zum Vorschein und bietet sich für theoretische (und künstlerische) Untersuchungen an.
Als eine auf vokale Unmittelbarkeit beschränkte Modalität spricht das Telephon Bände über seine platonisch-metaphysischen Rahmenbedingungen. Aus der Nähe betrachtet, liefern manche Besonderheiten telematischer Erfahrung neue Erkenntnisse über die telefonische Struktur - Erkenntnisse, die zu einer Dekonstruktion dieser Rahmenbedingungen beitragen könnten. Der bedeutendste Aspekt der neuen telefonischen Syntax ist die kürzlich erfolgte Einbeziehung des graphischen Elements. Mittlerweile kann man über das Telefon nicht nur sprechen, sondern auch schreiben (E-mail), drucken (Fax), sowie Geräusche und Videobilder produzieren und aufzeichnen (Anrufbeantworter, Slow-scan-TV, Videophon). Überdies ist zu erwarten, daß die Glasfasertechnik künftig auch Zugang zum Tele-Cyberspace ermöglichen wird. Das Telefon wird zum Medium erweiterter, radikalisierter Schrift par excellence - siehe Derrida. Aber im Gegensatz zu naheliegenden Hypothesen wächst die Bedeutung des Telefons in unserem Leben umso mehr, je sprachloser es ist. Es zzeigt sich, daB es seine Existenz nicht mehr ausschließlich der gesprochenen Sprache verdankt und daB die kulturellen Implikationen dieses neuen Aspekts zeitgenössischen Lebens als ästhetische Erfahrung vorerst noch aufzuarbeiten bleiben.
Wenn sich der Künstler als Experte, der sich veränderter Wahrnehmung bewußt ist, wie McLuhan annahm (33), in besonderer Weise mit Technologie auseinandersetzt, dann ist auch er es, von dem die Entdeckung neuer Erfahrungsbereiche jenseits herkömmlicher Kognition ausgeht. Heute kehrt eine kleine Anzahl von Künstlern, getrieben von echtem künstlerischen Forschungsgeist, dem Kunstmarkt den Rücken, um sich in ortsungebundenen Netzwerken mit Telekommunikations-Events zu befassen.
Seit 1982, anschließend an Bill Bartletts Telekommunikationsaktionen, verwenden Stan VanDerBeek, Liza Baer, Bruce Breland, Matt Wrbican und weitere Mitglieder der Pittsburgher Dax-Gruppe (die inzwischen auch eine Außenstelle in Bellingham, Washington, hat) konsequent Fax und Slow-scan-TV als künstlerische Medien. Die Dax-Gruppe hat Telekommunikations-Events initiiert oder mitgemacht, wobei Telephonleitungen mit Graphiksignalen saturiert wurden und die graphische Information in mehrere Richtungen floß. Häufig sind an solchen Events auch noch andere Medien (Tanz, Computermusik usw.) beteiligt. Sie erstrecken sich über mehrere Zeitzonen, weit auseinanderliegende geographische Gebiete und etablieren unterschiedlichste Beziehungen zwischen den Teilnehmern. Bruce Breland, der Leiter der Gruppe, schreibt:
Das Konzept des interaktiven Systems hat die alten Grenzen regionaler oder nationaler Kunst aufgehoben. Die Telematik schafft neue Rahmenbedingungen für eine interaktive Zusammenarbeit zwischen Einzelpersonen und Gruppen, sowie die verzögerungsfreie Verbreitung von Information, wobeli der einzelne Teilnehmer zwischen einfacher Abgrafe und komplexer künstlerischer Zusammenarbeit wählen kann. (34)
Zu den ersten Aktivitäten der Gruppe gehörte die Mitwirkung in dem globalen Netzwerk-Projekt Die Welt in 24 Stunden (1982).
Dieses Ereignis wurde von Robert Adrian für die Linzer Ars Electronica organisiert und verband einen Tag und eine Nacht lang sechs Städte und drei Kontinente. Drei Jahre später erweiterte die Gruppe mit dem Event The Ultimate Contact den Begriff weltweite Interaktion. Das Slow-scan-TV-Stück entstand in Zusammenarbeit mit der Raumfähre Challenger über UKW-Radio. Die Dax-Gruppe beteiligte sich auch an größeren Netzwerken anerkannter Kunstinstitutionen, etwa des Ubiqua -Telekommunikationslabors anläßlich der 42. Biennale in Venedig (1986), wobei Text (IP Sharp), Slow-scan-TV und Fax verwendet wurden. Als erste Gruppe beteiligte sich Dax in jüngster Zeit an einem gemeinsamen Event mit afrikanischen Künstlern. Im Juli 1990 entstand Dax Dakar dAccord, ein Slow-scan-TV-Austausch zwischen Künstlern in Pittsburgh, Dakar und Senegal zum Fünf-Jahres-Gedenken an die afrikanische Diasporao in Senegal im Rahmen der Goree-Almadies-Gedenkfeier (35). Von Dakar aus wirkten Breland, Wrbican, Bruce Taylor, Mar Gueye (Glasmalerei), Serigne Saliou Mbacke, De C.A.S.A. (Sandmalerei), Les Ambassadeurs (Tanz und Musik), Le Ballet Unité Africaine (Tanz und Musik) und Fanta Mbacke Kouyate mit ihrem Goree Song mit. Die letztgenannte Musiknummer bezieht sich auf Goree Island, eine kleine Insel im Hafen von Dakar, die vierhundert Jahre lang als Verladeplatz für Sklaven diente.
In Brasilien und über Brasiliens Grenzen hinweg arbeiten Künstler wie Mario Ramiro, Gilberto Prado (Mitglied von Art Reseaux, Frankreich), Paulo Bruscky und Carlos Fadon seit Anfang bzw. Mitte der 80er Jahre mit Telekommunikation. Mario Ramiro, der zur Zeit in Deutschland lebt, ist auch Bildhauer und arbeitet mit Nullgravität und Infrarotstrahlung. Er hat eine Reihe von Telekommunikations-Events mit Fax, Slow-scan-TV, Videotext, Live-TV und Radio initiiert bzw. mitgestaltet und ist Autor zahlreicher Publikationen zu diesem Thema. Paulo Bruscky aus Recife, bekannt durch seine Xerographien und Mail-Art-Arbeiten, ist einer der wenigen brasilianischen Gruggenheim-Stipendiaten. Zu seinen frühen Telekommunikationsarbeiten gehören Experimente mit Telex und Fax. Carlos Fadon, der mehrere Jahre in Chicago verbracht hat und nun wieder in São Paulo lebt, ist Photograph und Computerkünstler, dessen Arbeiten von mehreren internationalen Sammlungen angekauft wurden. Zu seinen originellsten Slow-scan-TV-Stücken (36) gehört Natureza Morta ao Vivo: Ein Künstler A sendet ein Bild an einen anderen Künstler B. Das empfangene Bild wird zum Hintergrund eines live geschaffenen Stillebens. B plaziert Objekte vor dem elektronischen Bild, die, zusammen mit dem Bild als Still-Video aufgenommen und an A zurückgesandt werden. A verwendet das neu entstandene Bild als Hintergrund für eine weitere Komposition mit neuen Objekten, die wiederum an B gesandt wird. Der Vorgang wird beliebig of wiederholt, so daß jede Stilleben-Generation ein Work-in-progress und damit Teil eines visuellen Dialogs bleibt.
Aufwendige Projekte hat die Pariser Gruppe Art Reseaux (Karen ORourke, Gilberto Prado, Christophe LeFrancois u.a.) realisiert, etwa ORourkes City Portraits (37): Teilnehmer in einem weltumspannenden Netz werden aufgefordert, durch den Austausch von Faxbildern imaginäre Städte zu bereisen. In der Regel beginnt eine Arbeit, indem ein Künstler zwei Bilder generiert - eine Ankunft und eine Abreiseszene. Ein anderer Künstler verwendet diese Bilder als Anfangs-bzw. Endpunkt einer Tour durch die Stadt, die sich als Metamorphose von telefonisch ausgetauschten Bildern entwickelt.
Die Künstler machen Ankunft-und Abreisebilder von den Städten, in denen sie wohnen, manipulieren bestehende Bilder zu synthetischen Stadtansichten und vermischen reale und imaginierte urbane Räume. Gilberto Prado arbeitet seit einiger Zeit an einem Projekt mit dem Titel Connect , das mindestens zwei Produktionsorte und an jedem Ort zwei Faxgeräte involviert. Die Künstler an den beiden Orten dürfen die Thermopapierbahn, auf der das Fax erscheint, nicht abreißen, sondern müssen sie durch ein zweites Faxgerät laufen lassen und die Bilder zugleich manipulieren. Es entsteht eine Schleife, die nicht nur die Künstler, sondern auch die Geräte miteinander verbindet. Die so entstandene Konfiguration ist ein die Topographie zweiter Städte umschließender Kreis im elektronischen Raum, wobei die Städte so weit auseinanderliegen können wie Paris und Chicago. Als ein Beispiel für mögliche Interaktionssysteme, die das lineare Modell durchbrechen, hat Prado ein zirkuläres Diagramm entworfen, in dem die Hände (nicht jedoch Mund und Ohren der Teilnehmer) zu Kommunikationsorganen werden.
Das jüngste Projekt von Le Francois ist Infest: Künstler werden eingeladen, die Beschädigung von Bildern und Dokumenten durch Computerviren als neuen Aspekt zeitgenössischen Lebens ästhetisch zu erkunden. Im Zuge des Austausches erfahren die Bilder Manipulationen in Form von Zerstörung und Rekonstruktion (Virusinfektion und -desinfektion), wobei als neues Phänomen der elektronische Verfall in einer Welt digitaler Epidemiologie sichtbar wird.
Während die Metaphern menschlicher Existenz sich mit jenen kybernetischer Existenz vermischen, lernen Designer, mit Interfacing umzugehen, und Künstler stellen den Vergleich zwischen Fernkommunikation mit Face-to-Face-Interaktion an. Ausgehend davon, daß die Telefonie einen festen Platz in der Kunst hat, reflektiert Karen ORourke über den Faxverkehr als künstlerische Arbeitsweise:
Für die meisten von uns ist der Ansatzpunkt ihrer Arbeiten nicht das gemalte Bild (ja, nicht einmal die Photographie), sondern das Telefon selbst. Wir verwenden es nicht nur, um Bilder zu senden, sondern auch, um sie zu empfangen. Dieses beinah sofortige Feedback transformiert die Essenz der gesendeten Botschaft, so wie die Anwesenheit eines lebenden Publikums sich auf die schauspielerische oder musikalische Interpretation auswirkt. (38) So wie Repräsentation (Malerei, Skulptur) im Zeichen-Inhalt-Bezug gleichbedeutend mit Abwesenheit ist (das Zeichen evoziert das abwesende Objekt), ist Erleben (Happening, Performance) gleichbedeutend mit Anwesenheit. Man kann nur etwas erleben, was im Wahrnehmungsbereich präsent ist. In der Telekommunikationskunst führen An-und Abwesenheit miteinander ein Ferngespräch, in dem Repräsentation und Erleben nicht mehr Gegenpole sind. Das Telefon befindet sich im Zustand ständiger Verdrängung. Es ist logozentrisch, aber sein phonetischer Raum, der mittlerweile mit Schreibsystemen (Fax, E-mail) kongruent ist, vermittelt Bedeutung in Abwesenheit, was eher als schrifttypisches Phänomen empfunden wird (Abwesenheit des Senders, Abwesenheit des Empfängers). Das Telefon bewirkt die momentane Verdrängung von An-und Abwesenheit. Erleben ist hier nicht reine Anwesenheit, sondern, wie Derrida schreibt, eine Reihe von Differentialstellen. (39)
ZUSAMMENFASSUNG
Die auf den vorhergehenden Seiten besprochene neue Ästhetik bewegt sich außerhalb der Kategorie der schönen Künste. Die Rollen des Künstlers und des Publikums gehen ineinander über, die Ausstellung als Forum, wo physische Objekte vom Betrachter wahrgenommen werden wollen, verliert ihre zentrale Bedeutung. Bedeutung und Repräsentation in der bildenden Kunst - Begriffe, die man gemeinhin mit der Anwesenheit des Künstlers und mit stabilen semio-linguistischen Konventionen assoziiert - werden durch das kommunikative Erleben revidiert und neutralisiert. Die Telekommunikationskunst ist aus frühen Experimenten von Vertretern der Konzeptkunst hervorgegangen, jener Kunstrichtung, die erstmals programmatisch Sprache und Medium als künstlerische Bereiche untersucht hat. Heute schafft Telekommunikationskunst einen neuen Kontext für den postmodernen Diskurs.
Unsere traditionellen Vorstellungen vom Austausch von Symbolen werden relativiert durch neue Technologien - vom Faxgerät bis zum Handyphone, von Banknotenautomaten bis zum sprechenden Computer, vom Überwachungssystem bis zum Satelliten, vom Radio bis zum Funkmodem, vom Rundfunknetzwerk bis zum E-mail-Netzwerk, von der Telegraphie bis zur Free-Space-Kommunikation. Diese Hilfsmittel sozialen Verkehrs geben weder Anlaß zu optimistischen noch zu pessimistischen Erwartungen. Sie sind jedoch Anlaß, vom herkömmlichen Kommunikationsbegriff (Übertragung einer Botschaft, Ausdruck des eigenen Bewußtseins, Entsprechung vorherbestimmter Bedeutungen) Abschied zu nehmen.
Die experimentelle Verwendung von Telekommunikationstechnologie durch Künstler deutet auf eine neue Kulturproblematik und auf eine neue Kunst. Wie etwa soll man die nunmehr mögliche Begegnung von zwei oder mehr Menschen im Bildraum einer Videophonverbindung bezeichnen? Wenn zwei Personen zugleich über eine Telefonverbindung sprechen können, wenn ihre Stimmen aufeinandertreffen und einander überschneiden können, was läßt sich dann über die neue Erfahrung des Telemeeting im reziproken Bildraum aussagen? Was geschieht mit all den Telekommunikationsmodellen (40), die das Geflecht planetarer Netzwerke mit einer beliebigen Teilnehmerzahl nicht erfassen? Und wie steht es um die Hybridisierung der Medien, die maximale Informationsverarbeitungskapazitäten auf minimalen Raum komprimiert?
Wie sollen wir mit den neuen Hypermedien umgehen, die in einem einzigen Apparat Telefon, TV, Anrufbeantworter, Bildplatte, Tonaufzeichnung, Computer, Fax/E-mail, Videophon, Textverarbeitung und noch eine Menge mehr zusammenfassen? Wie kann es noch Sender und Empfänger als positive Werte geben, wenn sich deren Positionen nur noch im Akt des Verbindungsaufbaus, im Hin und Her telefonischen Austauschs temporär kontituirent? Der zeitgenössische Künstler muß es wagen, mit den materiellen und immateriellen Mitteln unserer Zeit zu arbeiten und sich mit dem alle Aspekte unseres Lebens durchdringenden Einfluß neuer Technologien auseinanderzusetzen, auch wenn dies bedeutet, aus der Ferne zu arbeiten und unsichtbar zu bleiben - fern vom Kunstmarkt und von allem, was damit zusammenhängt. Ich zitiere abschließend Derrida (41):
Eine neue Kunst sieht man nie, man meint nur, sie zu sehen; aber eine neue Kunst, wie man oft ein wenig leichthin sagt, mag gerade daran zu erkennen sein, daß sie nicht erkannt wird. Sie ist womöglich nicht sichtbar, weil kein Diskurs vorhanden ist, der das Funktionieren dieser Kunst organisiert und selbst unseren optischen Apparat, unser elementarstes Sehen beeinflußt. Dennoch: Wenn sich diese neue Kunst durchsetzt, dann deshalb, weil im unbestimmten Terrain des Impliziten bereits etwas angelegt ist, was sich entwickeln kann.
REFERENCES AND NOTES
1 - Claude E. Shannon and Warren Weaver, The Mathematical Theory of
Communication (Urbana: The University of Illinois Press, 1949).
2 - Roman Jakobson, "Linguistics and Poetics", Style in Language (New York:
MIT Press, 1960), Thomas Sebeok, org., pp. 353-356.
3 - Two examples based on personal experience: a) In 1989, Carlos Fadon and I
(Chicago), Bruce Breland and Matt Wrbican (Pittsburgh) and Dana Moser
(Boston) collaborated in "Three Cities", a slow-scan exchange operated through
three-way calling; b) In 1990, Fadon and I suggested to Bruce Breland the
creation of an international telecommunication event to be called "Impromptu",
in which artists would try to engage in conversations with tele-media (fax,
SSTV, etc) the same improvised way they do when talking face-to-face. "Earth
Day" was going to be celebrated soon, and Bruce suggested we expand the idea
to encompass the ecological context and make it "Earth Day Impromptu". Fadon
and I agreed, and we started to work with Bruce and the Dax group, and Irene
Faiguenboim, in organizing it. Later, Bruce's experience with large networks
proved crucial: working with other Dax members, he made possible a very
large SSTV conference call with several artists in different countries, which
was, together with the fax and videophone network, part of the "Earth Day
Impromptu".
4 - Hans Magnus Enzensberger, "Constituents of a Theory of the Media", Video
Culture (New York: Visual Studies Workshop Press, 1986), John Hanhardt, ed.,
p. 104.
5 - In Artists' use of interactive telephone-based communication systems from
1977-1984 (unpublished master thesis submitted to City Art Institute, Sidney
College of Advanced Education), 1986, p. 18, Eric Gidney gives an account of
pioneer artist Bill Bartlett's telecommunication events and also of his
disappointment with other artist's response: "Bartlett was dismayed at the
rapacity of many North American artists, who were willing to collaborate only
insofar as it furthered their own careers. He found that some artists would
simply refuse to correspond after a project was completed. He felt let down,
exploited and "burned out". Assaulted by serious doubts, he decided to
withdraw from any involvement in telecommunications work." Gidney also
summarizes the telecommunication work of pioneer artist Liza Bear, and quotes
her (p. 21): "A hierarchical structure is not conceptually well-suited and does
not create the best ambiance for communication by artists. This [medium] is
only successful in regions where artists and video people already have a good
track record of working together, sharing ideas and preparing material".
6 - Jean Baudrillard, "Requiem for the Media", Video Culture (New York:
Visual Studies Workshop Press, 1986), John Hanhardt, ed., p. 129. Baudrillard
formulates the problem of lack of response (or irresponsibility) of the media
with clarity: "The totality of the existing architecture of the media founds itself
on this latter definition: they are what always prevents response, making all
processes of exchange impossible (except in the various forms of response
simulation, themselves integrated in the transmission process, thus leaving the
unilateral nature of the communication intact). This is the real abstraction of the
media. And the system of social control and power is rooted in it." In order to
restore the possibility of response (or responsibility) in the current
configuration of the telecommunications media it would be necessary to
provoke the destruction of the existing structure of the media. And this seems to
be, as Baudrillard rushes to point out, the only possible strategy, at least on a
theoretical level, because to take power over media or to replace its content
with another content is to preserve the monopoly of speech.
7 - See: Kac, E., "Arte pelo telefone", O Globo, September 15, 1987, Rio de
Janeiro; "O arco-ris de Paik", O Globo, July 10, 1988, Rio de Janeiro;
"Parallels between telematics and holography as art forms", in Navigating in the
Telematic Sea, Bruce Breland, ed., New Observations, 76, New York,
May-June 1990, p. 7; Kac, E., "Ornitorrinco: Exploring Telepresence and
Remote Sensing", in Connectivity: Art and Interactive Telecommunications,
Roy Ascott and Carl Eugene Loeffler, eds., Leonardo, Vol. 24, N.2, 1991, p.
233; Kac, E., "On the notion of art as a visual dialogue", in Art Reseaux, Karen
O'Rourke, ed., Universit* de Paris I, Panth*on-Sorbonne, Paris,1992, pp.
20-23.
8 - Art Com (an online magazine forum), Tim Anderson and Wendy Plesniak,
eds., Number 40, Vol. 10, August 1990, issue dedicated to the Dax Group.
9 - Ascott, R., "Art and Telematics", in Art Telecommunications, Heidi
Grundmann, ed., The Western Front, Vancouver, Canada (Shakespeare
Company, Vienna, Austria), 1984, pp. 25-58.
10 - O'Rourke, K., "Notes on Fax-Art", in Navigating in the Telematic Sea,
Bruce Breland, ed., New Observations, 76, New York, May-June 1990, pp.
24-25.
11 - Gidney, E., "The Artist's use of telecommunications: a review", Leonardo,
Vol. 16, N. 4, 1983, pp. 311-315.
12 - Forest, F., "Communication Esthetics, Interactive Participation and Artistic
Systems of Communication and Expression", in Designing the Immaterial
Society, Design Issues special issue, Marco Diani, ed., Vol. IV, Ns. 1 & 2,
University of Illinois, Chicago, pp. 97-115.
13 - Robert Adrian X addressed this issue when he observed ("Communicating",
in Art Telecommunications, Heidi Grundmann, ed., The Western Front,
Vancouver, Canada (Shakespeare Company, Vienna, Austria), 1984, pp. 76-80):
"Nobody in eastern Europe can get access to telefacsimile equipment or
computer timesharing equipment... and the situation is much grimmer in Africa
and most of Asia and Latin America. If these parts of the world are to be
considered for inclusion in artists' telecommunications projects it has to be at
the level of ACCESSIBLE electronic technology... the telephone or short wave
radio."
14 - In October 28, 1991, Jaron Lanier lectured at the auditorium of The
School of The Art Institute of Chicago. At that occasion I had the opportunity to
ask him what he meant by this often-quoted and seldom-explained phrase
["post-symbolic communication"]. Lanier explained that one direction he
envisions for virtual reality is for it to be taken over by telephone companies, so
that timesharing in cyberspace becomes possible. In this setting, it would be
possible for people in distant locations, wearing datasuits, to meet in cyberspace.
These people would be able to exercise visual thinking on a regular basis and
communicate by other means different than spoken words; they would be able
to express an idea by simply making that idea visible in cyberspace, or by
manipulating their own databody or by manipulating their interlocutors'
databodies [I'm calling "databody" the human body of a VR user as seen by the
user once immersed in cyberspace]. This kind of communication, achieved by a
still symbolic but perhaps more direct use of visual signs, is what Lanier called
"post-symbolic communication". His "Reality Built for Two", or "RB2", is a
step in that direction, and we can expect videophone services to provide support
for it as well.
15 - Luciano Caruso, Manifesti Futuristi (Firenzi: Spes-Salimbeni, 1980), pp.
255-256.
16 - Pontus Hulten, org., Futurism & Futurisms (Venice and New York:
Palazzo Grassi and Abberville Press, 1986), p. 546.
17 - Fillipo Marinetti, Il teatro futurista sintetico
(dinamico-alogico-autonomo-simultaneo-visionico) a sorpresa
aeroradiotelevisivo caff* concerto radiofonico (senza critiche ma con
Misurazioni) (Naples: Clet, 1941). Some words in this title were neologisms
coined by Marinetti and allow for multiple interpretations. My choices in the
translation of the title are but some of the possible solutions.
18 - Jean Baudrillard, Simulations (New York: Semiotext(e), 1983) p 54.
Telecommunication media now efface the distinction between themselves and
what used to be perceived as something apart, totally different from and
independent of themselves, something we used to call the "real". Baudrillard
calls this situation "hyperreal", or "hyperreality". This lack of distinction
between sign (or form or medium) and referent (or content or real) as stable
entities is by the same token a step further away from McLuhan and a step
closer to the new literary criticism as epitomized by Derrida. In what is likely
to be his most celebrated essay, "The Precession of Simulacra", he once again
acknowledges McLuhan's perception that in the electronic age the media are no
longer identifiable as opposed to its content. But Baudrillard goes further saying
that: "There is no longer any medium in the literal sense: it is now intangible,
diffuse and diffracted in the real, and it can no longer even be said that the
latter is distorted by it. "
19 - Laszlo Moholy-Nagy, The New Vision and Abstract of an Artist (New
York: Wittenborn, 1947), p. 79.
20 - Kisztina Passuth, Moholy-Nagy (New York: Thames and Hudson, 1985), p.
33.
21 - Sybil Moholy-Nagy, Moholy-Nagy; Experiment in Totality (Massachusetts:
MIT Press, 1969), p XV.
22 - Laszlo Moholy-Nagy, Painting, Photography, Film (Massachusetts: MIT
Press, 1987).
23 - Moholy-Nagy [Painting, Photography, Film], pp. 38-39.
24 - Art by Telephone, record-catalogue of the show, Museum of
Contemporary Art, Chicago, 1969.
25 - Art by Telephone, op. cit.
26 - Avital Ronell, The Telephone Book; Technology, Schizophrenia, Electric
Speech (Lincoln: University of Nebraska Press, 1989).
27 - Ronell, op. cit., p. 9.
28 - John Brooks, "The First and Only Century of Telephone Literature", in
The Social Impact of the Telephone, Ithiel de Sola Pool, ed., (Massachusetts:
MIT Press, 1977), p. 220.
29 - Quoted by Brooks, op. cit., p. 220.
30 - Robert Hopper, "Telephone Speaking and the Rediscovery of
Conversation", in Communication and the Culture of Technology, Martin J.
Medhurst, Alberto Gonzalez and Tarla Rai Peterson, eds., (Pullman:
Washington State University, 1990), p. 221.
31 - The history of Western civilization, the history of our philosophy, is one of what Derrida
calls "metaphysics of presence". It is a history of the privilege of the spoken word which is
thought as the immediate, direct expression of consciousness, as the presence or manifestation of
consciousness to itself. In a communication event, for example, the signifier seems to become
transparent as if allowing the concept to make itself present as what it is. Derrida shows that this
reasoning is not only present in Plato (only spoken language delivers truth) and Aristotle
(spoken words as symbols of mental experience), but in Descartes (to be is to think, or to
pronounce this proposition in one self's mind), Rousseau (condemnation of writing as
destruction of presence and as disease of speech), Hegel (the ear perceiving the manifestation of
the ideal activity of the soul), Husserl (meaning as present to consciousness at the instant of
speaking), Heidegger (the ambiguity of the "voice of being" which is not heard), and virtually in
any instance of the development of the philosophy of the West. The rationale and implications of
this logocentrism/phonocentrism are not obvious and one must research its functioning. Derrida
explains that language is impregnated by and with these notions; therefore, in every proposition
or system of semiotic investigation metaphysical assumptions coexist with their own criticism,
all affirmations of logocentrism also show another side that undermine them. See Jacques
Derrida, Of Grammatology (Baltimore and London: John Hopkins University Press, 1976); also
Jacques Derrida, Positions (Chicago: University of Chicago Press, 1981).
32 - What Hopper does not account for is the fact that, in his discussion of linguistic intercourse,
Saussure only employs examples of face-to- face exchanges, eliminating telephonic intercourse.
Saussure (Course in General Linguistics (New York: McGraw-Hill, 1966), p. 206): "Whereas
provincialism makes men sedentary, intercourse obliges them to move about. Intercourse brings
passers-by from other localities into a village, displaces a part of the population whenever there
is a festival or fair, unites men from different provinces in the army, etc."
33 - Marshall McLuhan, Understanding Media (New York: McGraw-Hill, 1964) p. 18.
34 - Breland [New Observations], p.10.
35 - For a complete list, see Art Com, Number 40, Vol. 10, August 1990.
36 - Carlos Fadon, "Still Life/Alive", in Connectivity: Art and Interactive Telecommunications,
Roy Ascott and Carl Eugene Loeffler, eds., Leonardo, Vol. 24, N.2, 1991, p. 235.
37 - See Connectivity: Art and Interactive Telecommunications, p. 233.
38 - O'Rourke, "Notes on Fax-Art", op. cit., p. 24.
39 - Jacques Derrida, Limited Inc (Evanston, IL: Northwestern University Press, 1988), p. 10.
40 - For a summary of communication models, see Denis McQuail and Sven Windahl,
Communication Models for the Study of Mass Communications (London and New York:
Longman, 1981).
41 - Jacques Derrida, "Videor", in Passages de L'Image (Barcelona: Caixa de Pensions, 1991),
p. 176. "Passages de L'Image" was a travelling exhibition of media arts (video, holography,
digital imaging, etc) organized by the Mus*e National D'Art Moderne, Centre Georges
Pompidou, Paris.
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